Kann Psychotherapie oder Therapeutisches Coaching ein kultureller und gesellschaftlicher Beitrag sein?
Die Entscheidung sich psychologische Hilfe zu erlauben, erfolgt oft erst auf einer Art Höhepunkt der Leidenskurve. Betroffene und deren Umfeld haben dann schon eine lange Zeitspanne damit verbracht, die auftretenden Symptome zu vernachlässigen.
Was macht jedoch die Hürde so groß, den Schritt in therapeutisches Terrain zu wagen? Unsere Gesellschaft stellt in der Hauptsache, Wachstum, Leistung, Funktionsfähigkeit, materielle Potenz, Perfektion und Äußerlichkeiten in den Fokus. Leistungswille/kraft, geistige und körperliche Gesundheit sind Voraussetzung den Normen und Werten der Gesellschaftskultur zu genügen. Doch sind wir ausreichend mit Begabungen, Talenten, Strategien oder Handlungsspielräumen ausgestattet, um zu jeder Zeit den Kopf oben haben zu können? Ist unsere Sozialisation soweit gelungen einen widerstandfähigen, flexiblen, starken und seelisch gesunden Menschen aus uns werden zu lassen?
Dem Umstand nicht mit allem selbst fertig zu werden oder sich Hilfe, Unterstützung oder Beistand zu nehmen, haftet ein Makel an – man gilt als krank, schwach und weniger wert. So oder ähnlich lauten die eigenen Urteile und die der Umwelt.
Diese Perspektive führt zu Verdrängung und Vermeidung. Eine aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten findet nicht statt. Die Hürde ist also groß, reflektierende, therapeutische Gespräche in Anspruch zu nehmen, wenn die seelische Verfassung mal nicht so gut ist.
Gravierende Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen sind schnell geschehen und selten vorhersehbar. Die Anforderungen an das psychische Gleichgewicht sind dabei hoch. Nicht weniger Stress lösen Probleme in Partnerschaft oder Ehe aus, wenn Veränderungsschritte einseitig, plötzlich oder unvermittelt in Gang gesetzt werden oder die Konfliktlage überhandnimmt.
Wie anders könnte eine Perspektive aussehen, die anerkennt dass Veränderung, Wandel und Wachstum ein lebensbegleitender Prozess und der Mensch ein komplexes Wesen ist, dessen Kapazitäten und Entwicklungsprozesse ihr Ende erst mit dem Tod finden.
Ich stelle mir einen kultur-gesellschaftlichen Kontext vor, der jeden Einzelnen willkommen heißt und dazu einlädt, sich Zeiten und Räume zu nehmen, um reflektorische und therapeutische Gespräche und Erfahrungen zu haben. So lässt sich das Verschleppen der Thematik verhindern und das stille und lange Leiden vermeiden. Und mehr noch könnte Selbstreflexion und Therapieerfahrung als Pluspunkt in der Vita oder dem Lebenslauf gelten, eine Aussage dahingehend sein aktiv nach seelischer Balance zu suchen und damit friedfertigere Handlungsmöglichkeiten zu etablieren.
Seelische Balance ist nicht nur eine persönliche Angelegenheit sondern auch von enormem praktischem Wert für eine Gesellschaft. Sie führt zu geringeren Krankenständen, mehr Zufriedenheit im beruflichen und familiären Alltag, weniger Kriminalität und aggressivem Verhalten. In den USA gehört es fast schon zum guten Ton einmal auf der „Couch“ gelegen zu haben. Es ist ein Zeichen der psychischen Hygiene, dass eine gereifte Persönlichkeit sich mit therapeutischer Unterstützung mit Ihrer Seele auseinandersetzt. Sie erlangt dadurch mehr (Selbst-) Erfahrung, mehr Verständnis über All-zu-Menschliches.
Insgesamt mangelt es aus meiner Sicht an Aufklärung und einer Differenzierung für psychische Belange. Zu schnell werden Dysbalancen als Krankheit kategorisiert. Damit wird es den Betroffenen schwer gemacht sich diesen zu stellen und sie als Herausforderung oder Aufgabe zu betrachten.
Eine anerkennende und konstruktive Perspektive ist eine gute Entscheidungsbasis für Therapeutisches Coaching, eine Paarberatung oder eine Psychotherapie. Die Gründe hierfür können so unterschiedlich und individuell sein wie es unterschiedliche Charaktere und Persönlichkeiten gibt. Eine einfache und wertschätzende Einstellung, unterstützende therapeutische Gespräche in Anspruch zu nehmen, besagt: Ich gönne mir ein Gespräch mit einer psychologischen Fachkraft, ich erlaube mir den Luxus eines Therapeutischen Coaching oder gar einer Psychotherapie, ich lasse jemanden mit mir zusammen nachdenken und -fühlen und finde professionelle empathische Solidarität für meine Person.
© Birgitt Müller